wienerzeitung

 

Evelyne Polt-Heinzl, 15.7.2005

erlesen: Vom Leben und Sterben der Theaterpuppen

 

Das Kabinett-Theater erzählt im Wiener Schauspielhaus seine Version von Strawinskys "Geschichte vom Soldaten". Ein musikalisch und szenisch hinreißendes Puppenspiel.


Wer jetzt noch gehen will, kann gehen! heißt das Jubiläumsprogramm mit 15 Minidramen aus 15 Jahren Kabinetttheater. Die Apodiktik dieser Rilke-Paraphrase und das selbstbewusste Rufzeichen am Satzende sind absolut gerechtfertigt: Eine Aufführung im Kabinetttheater in der Wiener Porzellangasse wird niemand freiwillig vorzeitig verlassen. Mit bezaubernden, selbstgebauten Puppen, aufwändigen Bühnenapparaturen, einem Feuerwerk an originellen und treffsicheren Inszenierungsideen – das kann auch der minimalistische Auftritt zweier Gummihandschuhpaare (Konrad Bayer: "Anna und Rosa") sein – erweckt das Kabinetttheater seit Jahren Kurztexte zu einem komplexen Leben.


Der Wiener Sonderzahl Verlag legt nun zum Jubiläum den liebevoll gestalteten und reich bebilderten Band "Niemand stirbt besser. Theaterleben und Bühnentod im Kabinetttheater" vor, herausgegeben von Alexandra Millner. Das Buch versammelt Aufsätze über die spezifischen Möglichkeiten des Figurentheaters, über das Kabinetttheater im Besonderen und über einige "Stamm-Autoren" des Repertoires wie René Altmann und die Autoren der Wiener Gruppe, die in ihren Arbeiten nicht zufällig immer wieder auf die traditionsreiche Kasperlfigur zurückgriffen.


Die Beiträge, die in Stil und Herangehensweise auf recht unterschiedlichen Reflexionsebenen angesiedelt sind, ergeben eine kurzweilige Mischung. Dazwischengestreut sind kurze Hommagen ans Kabinetttheater und Auszüge aus literarischen Texten von Cervantes, George Sand, Charles Dickens, Stendhal und Federico García Lorca. Mit einem Bezug auf Kleists "Über das Marionettentheater" beginnt der Band zwar, den Text selbst aber findet man – wohl wegen seiner "thematischen Übernutzung" – in dem Buch nicht.


Wer einen ersten Zugang zum Thema sucht, ist mit dem Eröffnungsbeitrag der Prinzipalin Julia Reichert gut bedient, dem längsten und vielleicht anregendsten Text des Bandes. Er informiert über die (Vor-)Geschichte des Kabinetttheaters und gibt Einblick in Arbeitstechniken und Gestaltungsprinzipien des Figurentheaters. Als Künstlerin hat sich Julia Reichert schon früh der Gestaltung von Puppen zugewandt, die ab 1981 in Ausstellungen zu sehen waren.


Das Projekt Figurentheater begann sie in Graz in Zusammenarbeit mit Christopher Widauer, dem ehemaligen Intendanten der "styriarte". 1989 erfolgte die erste private Aufführung, weshalb Reichert in ihrem Beitrag auch hartnäckig von der 16-jährigen Geschichte ihres Theaters spricht. Gezeigt wurde damals unter anderem Daniil Charms "Die neugierigen alten Frauen", mit Musik von Olga Neuwirth, einem der besonders feinen Bausteine in dem heurigen Jubiläumsprogramm.


Kulturpolitisch interessant ist ein Blick auf die Liste der Gastspiele des Kabinetttheaters, die zeigt, wer wann auf das kleine, aber feine Theater aufmerksam wurde. Das erste Gastspiel in Wien erfolgte 1992 beim Festival "Literatur im März", 1993 folgte das Literaturhaus Salzburg und im selben Jahr auch die "Theater Gruppe 80" in Wien, die für neue Initiativen stets offen war (und es immer noch ist).


Die Stärke des Figurentheaters liegt in einer Reihe von Besonderheiten. Da ist die Puppe selbst: "man erwartet von ihr als Objekt zunächst nichts" (Christopher Widauer). Das schafft Freiheiten in Bezug auf die "Bedeutungsgröße" der Figuren (Julia Reichert), lädt zu bildhaften Umsetzungen, Verzerrungen und Proportionssprüngen ein, was die Nähe zu absurden und grotesken Texten erklärt – einige davon sind im Band "Minidramen" nachzulesen, der von Karlheinz Braun im Verlag der Autoren herausgegeben wurden.


Einzigartig im Figurentheater sind die wörtlich umsetzbaren Formen der "Dekomposition" mit einer verstörenden Vielfalt von Bühnentoden und körperlichen Demontagen (wie z. B. in Kurt Bartschs "Das Bein"): Nur hier können Daniil Charms neugierige alte Frauen so herrlich am Boden zerschellen, wenn sie sich zu weit aus dem Fenster beugen.

Evelyne Polt-Heinzl, geboren 1960, ist Literaturwissenschaftlerin und -kritikerin.